
Die von mir befragten 471 Patientinnen und Patienten im Zeitraum von Mai 1999 bis Mai 2003 haben Krankheiten folgendermaßen wahrgenommen:
Krankheitsbilder wurden erst dann erkannt, als die betroffenen Personen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten. Viele von ihnen vertraten die Meinung: „Solange man nicht im Bett liegt und zur Arbeit gehen kann, ist man gesund.“ – Als ernsthafte Erkrankungen galten Operationen mit Krankenhausaufenthalt, Therapien mit Spritzen und häufige Arztbesuche. Längere Untersuchungen und kostenpflichtige Medikamente galten als Zeichen für eine sehr gute medizinische Versorgung.
Der Grund dafür liegt darin, dass viele der befragten Patientinnen und Patienten kaum Wissen über den menschlichen Körper und dessen Funktionen hatten. Erst in Deutschland erfuhren sie durch eigene Krankheitserfahrungen und durch das Fernsehen mehr über Krankheiten, Symptome, Krankheitsverläufe und Behandlungsmöglichkeiten.
Psychosomatische Erkrankungen wurden laut eigener Aussage der Befragten nicht als Krankheit wahrgenommen. 90 % der Patientinnen und Patienten berichteten, dass sie erst in Deutschland etwas über folgende Krankheiten erfahren haben: Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Anämie, Epilepsie, Knochenentzündung, Multiple Sklerose (MS), Parkinson, Bronchitis, Lungenentzündung und Leukämie.
Die von Deta-Med versorgten Personen nahmen ihre Krankheiten meist erst dann wahr, wenn sich die Symptome verstärkten. Sie wussten wenig über Vorsorgeuntersuchungen, Rehabilitationsmaßnahmen und Anschlussheilbehandlungen. Für Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter (heute spricht man meist von „Menschen mit Migrationshintergrund“) gab es bis 1985 keine entsprechenden Leistungen. Wenn sie solche Leistungen in Anspruch genommen hätten, wären ihre Rentenansprüche im Alter gekürzt worden. Diese Gesetzeslage hatte langfristig negative gesundheitliche Folgen. Deshalb liegt der Altersdurchschnitt der von uns betreuten Patientinnen und Patienten zwischen 60 und 75 Jahren.
Die Begriffe „Kultur“, „Gesundheit“ und „Krankheit“ sind in ihrer Bedeutung abhängig vom jeweiligen Umfeld und dem Ort der Sozialisation. Im Laufe der Geschichte verändern sich die Definitionen von Krankheit, beeinflusst durch medizinische Erkenntnisse, Philosophien, Religionen und Weltanschauungen.
Die von mir durchgeführten Befragungen dürfen nicht als wissenschaftliche Studien verstanden werden, da ich nur eine bestimmte und gezielt ausgewählte Gruppe von kranken Menschen befragt habe. Die Ergebnisse liefern ein „Blitzlicht“ und erheben nicht den Anspruch, empirisch allgemeingültig zu sein.
Die befragten 471 Personen im Alter zwischen 50 und 75 Jahren gaben an, dass in ihrer Kindheit und Jugend Krankheiten nicht als etwas Natürliches galten. Sie wurden mit religiösen Mitteln behandelt – zum Beispiel durch das Lesen von Gebeten aus dem Koran, das Tragen von Amuletten, durch Beschwörungen, das Verzehren von Heilkräutern, Pilgerfahrten, Exorzismus oder Opfergaben. Erst wenn diese Mittel nicht wirkten, wurde – abhängig von der finanziellen Lage – ein Arzt in der Stadt aufgesucht.
Krankheit führte zu besonderer Aufmerksamkeit. Die Verantwortung für den Alltag übernahm dann das soziale Umfeld. Diese Form der Zuwendung führte manchmal zur körperlichen Besserung und trug zur Stabilisierung des seelischen Gleichgewichts bei.
Krankheitsvermeidung war – nach damaligem Verständnis – nur durch ein Leben im Einklang mit der Gemeinschaft, durch Einhaltung von Normen und Sitten möglich. Krankheit wurde mit Sünde oder moralischer Verfehlung gleichgesetzt, während Gesundheit als „Belohnung“ für moralisch richtiges Verhalten angesehen wurde.
Der Einfluss der Religion war groß. Das Schicksal, im Türkischen „KADER“ genannt, hatte hohe Bedeutung. Es bestand der Glaube, dass der Lebensweg eines Menschen von Gott vorherbestimmt und auf seiner Stirn „geschrieben“ sei. Wer Schmerzen hatte, empfand dies als Prüfung durch Gott. Das Vermeiden von Leiden galt als Widerspruch zu Gottes Willen.
Niemand könne seinem Schicksal entkommen – 73 % meiner Befragten vertraten noch diese Sichtweise. Auf meine Frage, wie Krankheiten entstehen, erhielt ich neben medizinischen auch kulturell und religiös geprägte Antworten: Zum Beispiel „durch Gott“, durch „CIN“ (böse Geister oder Dämonen), die durch die Hautporen in den Körper eindringen. Weitere Ursachen waren laut Aussage der Befragten: „BEDDUA“ (Verfluchung), „KADER“ (Schicksal) oder „NAZAR“ (böser Blick).
Der „böse Blick“ wird häufig als Ursache vieler Krankheiten genannt. Eine weitere Rolle spielt „BÜYÜ VE MUSKA“ (Magie oder Amulette). Schwarze Magie wird – so der Glaube – bewusst eingesetzt, um Schaden zu verursachen, etwa Krankheiten, Eheprobleme oder Unfälle. Unerklärliche Leiden werden häufig der schwarzen Magie zugeschrieben.
Die „weiße Magie“ hingegen soll vor bösen Einflüssen schützen und Heilung bringen. Sie wird auch vorbeugend angewendet, um sich vor Krankheiten, Unheil oder Ehebruch zu schützen.
Die Methoden beider Magieformen – weiß und schwarz – sind gleich: Amulette im Haus, magische Knoten, das Bestreichen mit Schweinefett, magische Texte, die geschrieben und gelesen werden. Substanzen werden in Speisen oder Getränke gegeben, oder Erde von Gräbern wird vor die Haustür gelegt. Dies sind typische Formen der sogenannten Beschwörung.
Die Behandlung erfolgt häufig durch religiöse Heilkundige (Hoca oder Dede), die mit Ritualen und Beschwörungen versuchen, Symptome zu beseitigen. Diese Praktiken sind aus islamischer Sicht unzulässig und werden von islamischen Gelehrten abgelehnt. Im Volksglauben sind sie dennoch weit verbreitet.
Krankheiten werden mit bestimmten Bedeutungen verknüpft:
Durch eine Krankheit genießen die Betroffenen besondere Aufmerksamkeit und eine besondere Behandlung. Die beschriebenen Krankheiten und ihre „Behandlung“ sind nach Auffassung der Betroffenen auch im Koran verankert.
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse (2025):
In der modernen Medizin wird Krankheit als ein bio-psycho-soziales Geschehen verstanden. Neben biologischen und körperlichen Ursachen spielen psychische Faktoren und das soziale Umfeld eine zentrale Rolle. Kulturbedingte Vorstellungen beeinflussen, wie Symptome gedeutet und Gesundheitsangebote genutzt werden.
Psychosomatische Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen oder chronische Schmerzen sind medizinisch gut erforscht und behandelbar. Kulturell sensible Gesundheitsberatung ist entscheidend, um Fehldeutungen zu vermeiden und Vertrauen zu schaffen.
Prävention und Gesundheitsförderung (z. B. durch Aufklärung, Check-Ups und Impfungen) sind wichtige Bestandteile der heutigen Versorgung. Besonders bei älteren Menschen mit Migrationsgeschichte besteht weiterhin ein hoher Informationsbedarf.
Volksglaube und Spiritualität können eine Ressource für die Krankheitsbewältigung sein – sie dürfen jedoch nicht medizinische Diagnostik und Therapie ersetzen. Der Dialog zwischen medizinischem Fachpersonal und Betroffenen sollte respektvoll und kultursensibel geführt werden.
Überarbeitet am 23.07.2011 Dipl. Päd. Nare Yesilyurt
Die Befragung von 471 Patientinnen und Patienten zeigte, dass Krankheiten häufig erst bei Arbeitsunfähigkeit oder Krankenhausaufenthalt wahrgenommen wurden, während psychosomatische Leiden kaum als Krankheit galten; viele Symptome wurden religiös oder kulturell erklärt, etwa durch Schicksal (Kader), bösen Blick (Nazar) oder Geister (CIN). Heute betont die moderne Medizin ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis, weshalb kultursensible Aufklärung und respektvoller Dialog entscheidend sind, um Missdeutungen zu vermeiden und eine wirksame Versorgung zu gewährleisten.
Ich bin Nare Yesilyurt, Geschäftsführerin von Deta-Med – wir stehen für kulturspezifische Pflege und Integration in Berlin.familienfreundliche Arbeitsmodelle.