
Zwischen Mai 2001 und August 2003 wurden 245 Patientinnen und Patienten mit türkischem Migrationshintergrund befragt, wie sie Gefühle wie Wohlbefinden, Unwohlsein oder seelisches Leid am besten ausdrücken. Die Ergebnisse zeigen: Viele nutzen die sogenannte Organsprache als bevorzugte Form der Gefühlsäußerung.
Die Befragten berichteten, dass sie sich besonders bei türkischsprachigen Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften besser verstanden fühlen. Diese erkennen hinter den genannten Beschwerden häufig emotionale oder psychosoziale Ursachen. Bei deutschen Fachkräften hingegen fühlen sich viele missverstanden, da ihre Aussagen oft wörtlich genommen werden. Das führte nicht selten zu einer symptomorientierten Behandlung mit Medikamenten – ohne Berücksichtigung seelischer Hintergründe. Diese Form der Behandlung wurde von vielen als nicht hilfreich oder sogar belastend erlebt.
Ein zentrales Ergebnis war auch, dass viele Patientinnen und Patienten kein ausreichendes Vokabular in der türkische und deutschen Sprache haben, um seelische Zustände zu beschreiben. Deshalb greifen sie auf vertraute kulturelle Muster zurück, in denen über Organe gesprochen wird, um emotionale Belastungen auszudrücken. Diese Ausdrucksweise dient auch als Schutzmechanismus – eine Art, sich mitzuteilen, ohne sich zu entblößen.
Unsere pflegerische Arbeit mit türkischen Migrantinnen und Migranten ist stark durch diese Organsprache geprägt. Deshalb sensibilisieren wir unsere Mitarbeitenden für diese besondere Art der Gefühlsäußerung.
Viele Menschen erleben Krankheit und Tod unterschiedlich – je nach kulturellem, religiösem und familiärem Hintergrund. Auch das Land, in dem sie leben, beeinflusst ihre Sichtweisen.
So denken beispielsweise türkische Menschen der zweiten und dritten Generation in Deutschland oft anders über Krankheit als ihre Eltern oder Großeltern. Die erste Generation hält häufig an traditionellen Erklärungsmodellen fest. Jüngere Generationen vermischen diese mit dem, was sie in Deutschland lernen.
Die Organsprache ist ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation über seelisches Wohlbefinden. Viele sprechen nicht direkt über Gefühle, sondern benutzen bildhafte Ausdrücke, die Organe einbeziehen. Jedes Organ hat dabei eine symbolische Bedeutung.
Da viele Menschen aus der ersten Generation die medizinischen Strukturen in Deutschland nicht vollständig verstanden und sprachliche Hürden hatten, fühlten sie sich häufig nicht ernst genommen. Deshalb ist es für Pflegekräfte wichtig, offen und sensibel zu handeln – denn Krankheiten können in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben.
Viele litten auch an der sogenannten „Heimwehkrankheit“, die zu psychischen und körperlichen Beschwerden führte. Sie waren weit von der Heimat entfernt, fühlten sich isoliert und missverstanden. Die Gefühle des Heimwegs wurde über die Organsprache zum Ausdruck gebracht. Infolgedessen entstanden untereinander enge soziale Netzwerke – mitunter auch Parallelgesellschaften.
Kulturell geprägte Redewendungen der Organsprache und ihre Bedeutung
– „Ich habe Tuberkulose“ (verem oldum): Ausdruck für starke seelische Erregung oder anhaltenden inneren Druck, oft verbunden mit unterdrückter Wut, tiefe trauer
– „Geisterbeschwörung“ (büyü): Glaube an einen bösen Zauber, der durch andere Menschen ausgelöst wurde. Die Folgen können emotionale und körperliche Leiden, familiäre Entfremdung oder beruflicher Misserfolg sein.
– „Böser Blick“ (nazar): Überzeugung, dass neidische oder feindselige Blicke Krankheiten, Unglück oder Misserfolg hervorrufen.
– „Mein Herz, meine Lunge, meine Brust, meine Leber brennt“ (bağrım yanıyor): Ausdruck tiefer Trauer, innerem Kummer oder depressiver Verstimmung.
– „Mein Inneres brennt“ (içim yandı): Wird bei Trennungsschmerz verwendet, aber auch, wenn man großen Durst verspürt.
– „Mein Herz wurde eng“ (kalbim daraldı / sıkıldım): Gefühl innerer Beklemmung oder Langeweile; kein Hinweis auf organische Herzerkrankung.
– „Meine Gallenblase ist geplatzt“ (ödüm patladı): Ausdruck für plötzliches, intensives Erschrecken.
– „Ich habe meinen Kopf erkältet“ (kafayı üşüttüm): Beschreibt das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mental überlastet zu sein; auch Ausdruck für seelisches „Durchdrehen“.
– „Sie oder er ist meine Leber“ (o benim ciğerim): Ausdruck tiefer, nicht-sexueller emotionaler Bindung – vor allem zu Kindern oder geliebten Menschen.
– „Meine Leber fällt“ / „Meine Leber ist gefallen“ (ciğerlerim döküldü): Ausdruck für starke Trauer, Verzweiflung oder seelischen Zusammenbruch.
– „Mein Bauchnabel ist verrutscht“ (göbek düşmesi): Bezeichnung für psychosomatische Störungen mit unklaren körperlichen Symptomen.
– „Auf meinem Körper laufen Ameisen“ (her tarafım karıncalanıyor): Ausdruck für innere Unruhe, latente Depression oder ungelöste Konflikte.
– „Die Geister steigen mir zu Kopf“ (cinler tepeme çıktı): Ausdruck für extreme Reizüberflutung, inneren Stress oder nahenden emotionalen Zusammenbruch. Kein Hinweis auf Psychose, sondern ein stiller Hilferuf.
Dipl. Päd. Nare Yesilyurt
05. September 2003
Überarbeitet: November 2011
Überarbeitet: 03. Juli 2025
Die Befragung von 245 Patientinnen und Patienten mit türkischem Migrationshintergrund zeigte, dass viele Gefühle wie Trauer, Angst oder seelisches Leid über Organsprache ausdrücken – also in bildhaften Formulierungen mit Körperorganen, die symbolische Bedeutungen tragen. Diese Ausdrucksweise erleichtert es, seelische Belastungen mitzuteilen, führt jedoch im Kontakt mit deutschsprachigen Fachkräften oft zu Missverständnissen, weshalb kultursensible Pflege und Kommunikation entscheidend sind.
Ich bin Nare Yesilyurt, Geschäftsführerin von Deta-Med – wir stehen für kulturspezifische Pflege und Integration in Berlin.familienfreundliche Arbeitsmodelle.