Befragung Schicksal und Böseblicke

Einleitung:

Hinweis zur kulturellen Vielfalt:
Die folgenden Ausführungen zu Kultur, bösem Blick (Nazar), Schicksalsglauben (Kader), schwarzer Magie und Körperpflege beziehen sich auf verbreitete Glaubensvorstellungen und traditionelle Überzeugungen, die in bestimmten Gemeinschaften vorkommen können. Diese Beschreibungen sind nicht verallgemeinernd gemeint und gelten nicht für alle Menschen gleicher Herkunft oder Religion. Ziel ist es, kulturelle Hintergründe verständlich zu machen – nicht, Stereotype zu reproduzieren.

Schicksal im Islam
Das Phänomen Schicksal (KADER)

Der Begriff „KADER“ bedeutet Schicksal, Fügung oder Vorherbestimmung.

Von August 2004 bis November 2007 habe ich 86 Personen zum Thema KADER befragt.

Nach islamischem Glauben wird das Schicksal eines jeden Menschen bereits im Mutterleib festgelegt und auf seine Stirn geschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Schicksal von Gott bestimmt ist und nicht verändert werden kann. Das bedeutet, dass niemand seinem Schicksal entkommen kann – es wird so eintreten, wie es vorgesehen ist.

Der Glaube an „KADER“ bedeutet, dass alles, was einem Menschen im Leben widerfährt – sei es als gut oder schlecht empfunden –, von Gott kommt. Es liegt allein in Gottes Wissen und Macht. Dieser Glaube gibt vielen Menschen Halt, weil er hilft, unerklärliche oder belastende Ereignisse in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.

Wie Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen, hängt von ihrer religiösen und kulturellen Prägung ab. Es wird als unangemessen betrachtet, bei Krankheit, Unglück, Katastrophen oder Tod zu klagen oder Gott zu fragen: „Warum ich?“ oder „Womit habe ich das verdient?“

In der täglichen Pflegearbeit mit unseren Patientinnen und Patienten stoßen wir mitunter an Grenzen. Angehörige wollen häufig keine professionelle Hilfe annehmen, weil sie glauben, dass es ihr „KADER“ sei, sich um den kranken Menschen zu kümmern. Medikamente oder Therapien werden manchmal abgelehnt, weil man sich seinem Schicksal fügen müsse. Dabei kann die religiöse Überzeugung helfen, Leiden zu ertragen – gleichzeitig aber auch die Inanspruchnahme von medizinischer Hilfe erschweren.

 

NAZAR – Der Böse Blick

Ich habe im Zeitraum von April 2001 bis September 2008 insgesamt 187 Personen zum Thema NAZAR („der böse Blick“) befragt.

Der Glaube an den bösen Blick gehört zu den am weitesten verbreiteten und ältesten Formen des Aberglaubens. Er stammt vermutlich aus dem Orient und hat sich von dort aus in viele andere Kulturen verbreitet. Der böse Blick steht für die Vorstellung einer unheilvollen Kraft, die durch Neid ausgelöst wird. Dieser Blick soll Krankheiten bei Menschen und Tieren verursachen oder Dinge beschädigen können.

NAZAR ist heute in vielen Kulturen der Welt ein fester Bestandteil des Volksglaubens. Es wird angenommen, dass manche Menschen ihren Blick gezielt einsetzen, um Schaden zu verursachen. Andere wiederum sollen unbewusst eine verderbliche Wirkung auf ihre Umwelt haben.

Im islamischen Glauben hat NAZAR eine besondere Bedeutung. Im Koran gibt es sogenannte Schutzsuren, also Verse, die Gläubige vor den schädlichen Auswirkungen des bösen Blicks schützen sollen.

Aus religionspsychologischer Sicht ist der Glaube an den bösen Blick ein Ausdruck tiefer verwurzelter Vorstellungen von Neid, Macht und Schutz. Die Zuschreibung von Krankheit oder Unglück auf eine äußere, personifizierte Ursache dient der seelischen Entlastung und stärkt in vielen Gemeinschaften das Bedürfnis nach spirituellen Schutzmaßnahmen.

Die Aussage der befragten Patientinnen und Patienten von Deta-Med, dass Krankheit und Tod durch das Einwirken einer feindlichen Macht – nämlich durch den bösen Blick – entstehen, hat mich nicht überrascht. Die meisten Befragten stammten aus ländlichen Regionen der Türkei und hatten nur eine geringe Schulbildung. Kenntnisse über medizinische Zusammenhänge wie Bakterien, Pilze, Viren oder Keime waren kaum vorhanden. Stattdessen wurde das Unheil einer übernatürlichen Kraft – dem bösen Blick – zugeschrieben.

Als ich mein soziales Umfeld befragte – darunter Akademiker, Wissenschaftler, Architekten, Journalistinnen und Journalisten, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte –, war ich umso erstaunter, dass etwa 90 % ebenfalls an den bösen Blick glaubten. Selbst Menschen, die über medizinisches Wissen verfügen und die biologischen Ursachen von Krankheiten kennen, zweifeln nicht an der Wirkung von NAZAR. Der Glaube daran ist tief verankert und wird durch seine Bedeutung im Koran zusätzlich religiös gestärkt.

Aus kulturanthropologischer Sicht lässt sich dies dadurch erklären, dass traditionelle Glaubensmuster – insbesondere solche mit spiritueller oder religiöser Verankerung – sehr stabil sind. Selbst in modernen Gesellschaften können solche Überzeugungen neben naturwissenschaftlichem Denken bestehen bleiben. Der Glaube an den bösen Blick erfüllt dabei oft eine emotionale Funktion: Er bietet einfache Erklärungen für komplexe Lebensereignisse und vermittelt das Gefühl von Kontrolle oder Schutz.

Wer und was wird vom bösen Blick bevorzugt getroffen?

Die häufigsten Antworten der Befragten lauteten, dass vor allem Neugeborene und Kinder betroffen seien, weil sie als besonders schutzlos gelten. Auch Mädchen in der Brautzeit sowie Frauen während der Schwangerschaft und Geburt gelten als besonders gefährdet, da sie häufig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und Neid auslösen können – insbesondere bei Menschen, die selbst keine Töchter haben.

Auch hübsche Menschen und Personen mit besonderem Fleiß oder handwerklichem Geschick gelten häufig als Ziel des bösen Blicks, da ihre Eigenschaften als beneidenswert wahrgenommen werden. Menschen, die nach allgemeiner Auffassung keine „besonderen Merkmale“ besitzen, seien demzufolge seltener betroffen.

Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere sollen laut Volksglauben Opfer des bösen Blicks werden – insbesondere Nutztiere wie Milchkühe, Schäferhunde, eierlegende Hühner oder Pferde. Selbst Pflanzen, Getreidefelder, Obstgärten oder Wasserbrunnen können laut Aussagen der Befragten vom bösen Blick „getroffen“ werden.

Die Ansichten über die Auswirkungen des bösen Blicks

Plötzlicher Kindstod, Wochenbettpsychosen, Angstzustände, Kopfschmerzen, Ohnmacht, Fieber, Schlaflosigkeit, epileptische Anfälle, Übelkeit, Impotenz, Unfruchtbarkeit, Gewichtsverlust, Blutarmut (Anämie), Lähmungen, geistige Verwirrung, Scheidungen, Nervosität, dauerndes Unglück und sogar der Tod – all diese Zustände und Krankheiten werden im Volksglauben mit dem bösen Blick in Verbindung gebracht.

Auch auf das Ackerland soll der böse Blick Auswirkungen haben: Die Erde verliert ihre Fruchtbarkeit, die Pflanzen tragen keine Früchte mehr. Ebenso können Gegenstände betroffen sein: Sie zerbrechen, zerkratzen, zerfallen, platzen, reißen, werden zertreten, zerstört, beschädigt oder sogar unabsichtlich verbrannt. Jedes dieser Ereignisse wird als Folge der schädlichen Wirkung des bösen Blicks verstanden.

Aus kulturpsychologischer Perspektive lässt sich erklären, dass solche Zuschreibungen eine Funktion erfüllen: Sie helfen Menschen, unerklärliche oder belastende Ereignisse emotional zu verarbeiten. In Gemeinschaften mit starkem Glauben an spirituelle Kräfte bietet der böse Blick eine einfache Erklärung für Verluste, Krankheiten oder Unglück – insbesondere in Situationen, in denen medizinisches oder naturwissenschaftliches Wissen nicht zur Verfügung steht. Solche Überzeugungen sind zudem stark durch familiäre Traditionen, religiöse Deutungen und die Sozialisation geprägt.

Der Schutz vor und die Behandlung gegen den bösen Blick

Der Schutz vor dem bösen Blick ist so vielfältig wie die Verbreitung dieses Aberglaubens. Im Koran gibt es zwei sogenannte „Schutzsuren“ (Verse), die als Gebet zum Schutz aufgesagt werden sollen: „Al-Falaq“ und „Al-Nas“. Gläubige sprechen diese Suren insbesondere dann, wenn sie das Gefühl haben, vom bösen Blick getroffen worden zu sein – zum Beispiel nach einem Lob oder einem bewundernden Blick von anderen.

Nach dem Loben oder Bewundern einer Person, eines Kindes oder eines Gegenstandes wird traditionell der Satz „Maschallah“ (Gott schütze Dich) gesagt. Diese Formulierung gilt als spiritueller Schutz und soll verhindern, dass Neid oder negative Energie auf das Gelobte übergeht.

Sehr verbreitet ist auch das Tragen eines blauen Amuletts, das wie ein Auge aussieht – das sogenannte NAZAR BONCUĞU. Dieses Amulett soll böse Blicke „ablenken“ oder „zurückwerfen“ und ist in vielen Haushalten und an Kinderkleidung zu finden. Es gilt als starker Schutzsymbol in der Türkei und in anderen Regionen.

Weitere traditionelle Methoden zum Schutz sind:

  • Bleigießen, um den bösen Blick sichtbar zu machen und anschließend zu zerstören,
  • Salz auf den Kopf streuen und dieses anschließend am Herd verbrennen,
  • spezielle Gebete oder Schutzrituale, die innerhalb der Familie oder Dorfgemeinschaft weitergegeben werden.

Ein weiterer, heute selten gewordener Volksglaube besagt, dass Babys, die unabsichtlich ihren eigenen Kot in den Mund nehmen, ein Leben lang vor dem bösen Blick, schwarzer Magie, Beschwörungen und Flüchen geschützt seien.

Die genannten Methoden sind nur ein kleiner Teil der insgesamt sehr vielfältigen Schutzpraktiken gegen den bösen Blick. Es existieren zahlreiche weitere regionale, familiäre oder individuell entwickelte Rituale, die hier nicht alle aufgeführt werden können.

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht haben solche Schutzhandlungen eine stabilisierende Funktion: Sie vermitteln subjektive Sicherheit in ungewissen Situationen und fördern das Gefühl, nicht hilflos ausgeliefert zu sein. In vielen Kulturen sind solche Rituale tief im Alltag verankert und geben – unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung – emotionale Sicherheit und sozialen Halt.

Alles, was Menschen sich nicht erklären können oder was sie als unnatürlich empfinden, wird häufig mit dem „bösen Blick“ (NAZAR) begründet. – Die oben genannten Vorstellungen sind auch heute noch bei vielen Menschen aus diesem Kulturkreis verbreitet. Es besteht der Glaube, dass aus dem Auge eines Menschen eine Art magische Kraft austritt – ein „Zauberblick“ (BÜYÜLEYICI GÖZLER) –, der so stark auf andere wirkt, dass sich der Betroffene diesem Einfluss nicht mehr entziehen kann.

Das Auftreten von Krankheitssymptomen, besonders von psychosomatischen Beschwerden, wird häufig diesem Zauberblick zugeschrieben. In vielen Fällen führt diese Deutung dazu, dass medizinische Ursachen nicht erkannt oder behandelt werden. Stattdessen orientiert sich die Behandlung an rituellen, spirituellen oder volkstümlichen Maßnahmen.

Für die betroffenen Personen bedeutet dies oft eine verstärkte soziale Isolation: Sie werden von anderen gemieden, weil man glaubt, dass sie durch ihren Blick Schaden verursachen können. Infolgedessen werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Der Gedanke, dass jemand den „Zauberblick“ habe, führt dazu, dass diese Person als Sündenbock herhalten muss – insbesondere dann, wenn andere mit ihrer eigenen Niederlage, einer Erkrankung, Trauer oder einem persönlichen Misserfolg nicht zurechtkommen.

Es ist sehr einfach, alles auf den bösen Blick zu schieben, um sich nicht mit der tatsächlichen Ursache der eigenen Lage auseinandersetzen zu müssen. Aus psychologischer Sicht dient der Glaube an NAZAR oft der Erklärung komplexer Lebenssituationen, die Angst oder Hilflosigkeit auslösen. Er bietet scheinbar einfache Antworten, vermeidet aber eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst, dem sozialen Umfeld oder mit gesundheitlichen Ursachen.

Bei der täglichen Versorgung von Patientinnen und Patienten, die an NAZAR glauben, stellen sich für Ärztinnen und Ärzte sowie für das Pflegepersonal besondere Herausforderungen. NAZAR ist im Koran verankert und besitzt dadurch eine hohe religiöse und kulturelle Autorität. Deshalb ist es wichtig, den Glauben und die Überzeugungen der Betroffenen ernst zu nehmen.

Eine optimale Versorgung ist gewährleistet, wenn die Patientinnen und Patienten die Autonomie erhalten, sich sowohl kulturell als auch medizinisch angemessen versorgen zu lassen. Das bedeutet, dass auf ihre Überzeugungen eingegangen wird, ohne dabei die Pflegestandards und den aktuellen Stand der modernen medizinischen Behandlungspflege zu vernachlässigen.

Wissenschaftlich belegt ist, dass kultursensible Pflege und medizinische Versorgung das Vertrauen der Patientinnen und Patienten erhöht, was wiederum zu besseren Therapieerfolgen und einer höheren Zufriedenheit führt. Gleichzeitig ist es wichtig, evidenzbasierte medizinische Standards einzuhalten, um eine qualitativ hochwertige Behandlung sicherzustellen.

Wichtiges in Kürze

Der Glaube an Schicksal (Kader) und den bösen Blick (Nazar) prägt bis heute viele Lebenswelten von Menschen mit islamisch-türkischem Hintergrund. Während Kader das Leben als von Gott vorherbestimmt versteht und dadurch Trost, aber auch Einschränkungen bei medizinischer Hilfe bewirken kann, gilt Nazar als unheilvolle Kraft, die Krankheit, Unglück oder Tod verursachen soll und mit Schutzritualen abgewehrt wird. Für die Pflege bedeutet das: kulturelle Überzeugungen ernst nehmen, Brücken zu medizinischem Wissen bauen und durch kultursensible Versorgung Vertrauen schaffen.

Autor

Bild von Nare Yesilyurt
Nare Yesilyurt

Ich bin Nare Yesilyurt, Geschäftsführerin von Deta-Med – wir stehen für kulturspezifische Pflege und Integration in Berlin.familienfreundliche Arbeitsmodelle.

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